Ich hab mir das Thema nicht ausgesucht. Ich frage mich nämlich, ob ich auch nur das wichtigste in einem Artikel von zwei Seiten unterbringe. Gerade unter spirituellem Blickwinkel ist es ein so weites Thema, und es gibt dazu so viel Durcheinander zu lesen. Eins fehlt in der Überschrift noch: das „ICH“. Ist es schon so klar und selbstverständlich, dass es ein „ICH“ nicht gibt? Auch wenn jeder und jede, die noch nicht aufgewacht sind, so deutlich fühlt „ICH“ zu sein? – „ICH muss das und das schaffen“, „ICH bin großartig, weil ich das so toll hingekriegt habe,“ „ICH kann mit „MIR“ nicht zufrieden sein, weil ich jenes komplett verbockt habe.“
Wer oder was ist dieses „ICH“?
Antwort: Eine gedankliche Konstruktion. Eine
Illusion. Eine Erfindung des Geistes. Als die
Griechen sich die Stürme auf dem Meer und Ebbe und Flut nicht erklären konnten, aber ganz sicher glaubten, dass es ein Jemand sein muss, der das hervorruft, nannten sie diesen Jemand, dieses ICH „Poseidon“, sie glaubten Ebbe und Flut sei die Folge unterschiedlicher Launen des Poseidon. Inzwischen weiß man längst, dass Ebbe und Flut durch den Mond und Stürme durch Tiefdruckgebiete hervorgerufen werden, ohne ein „ICH“, ohne einen personifizierten Gott. Genauso: Es geschehen Handlungen, es geschehen Gedanken, es entstehen Gefühle – kein „ICH“, das all das tun und machen würde.
Jeder und jede ist ein Individuum. Einzigartig. Das allein ist ein Wunder, Milliarden von Menschen und niemand, selbst ein eineiiger Zwilling, ist genauso wie ein anderer. Auch Tiere sind Individuen, das unterscheidet uns nicht von ihnen, das weiß jeder, der mal eine Zeit lang mit einem Haustier zusammengelebt hat.
Als Individuum sind wir zunächst ein biologisches Wesen, ausgerichtet auf das Überleben und die Selbsterhaltung, auf die Vermehrung und die Arterhaltung und darauf, dass die Horde – die Sippe, die Familie, die Gesellschaft – zusammenbleibt und stark bleibt. Das jetzt ist so selbstverständlich, dass es umgangssprachlich heißt: Geld, Sex und Macht bewegen die Welt. Es sind auch die drei unteren Chakren.
Aber wir sind mehr: Wir sind auch geistige Wesen. Wir haben ein Verlangen nach Wahrheit und Verstehen, wir haben auch eine Sehnsucht nach Eins Werden, nach bedingungsloser Liebe, nach Unendlichkeit, Frieden, eine Sehnsucht
danach, anzukommen, zu Hause anzukommen. Es ist die Sehnsucht nach Erleuchtung, die Sehnsucht, aufzuwachen – die Worte sind nur unterschiedlich. Die meisten Menschen haben von dieser Sehnsucht nie gehört und nehmen sie auch nicht wahr, sondern verdrängen und
verschieben sie. Es bleibt eine nur halbbewusste Ahnung, dass es noch etwas anderes im Leben geben muss, es bleibt eine innere Unruhe, die mit vielen Ersatz-Befriedigungen und vor allem mit einem kontinuierlichen Getrieben Sein und Tätig Sein überdeckt wird.
Ich kenne viele aufgewachte Menschen, sehr viele. Das liegt in erster Linie daran, dass in meinen Retreats und Seminaren so viele Menschen aufwachen. Es ist selbstverständlich geworden. Ich weiß natürlich, dass das selten ist, auch selten in der spirituellen Szene. Vielleicht sogar einzigartig. Ich spreche oder schreibe also aus einer besonderen Perspektive, dass ich nämlich Erfahrungen habe in der Arbeit mit hunderten von aufgewachten Menschen, nicht nur Erfahrung mit mir selbst.
Aufwachen ist eine grundlegende Transformation. Danach hat man nicht mehr das Gefühl, dass „ICH“ die Handlungen mache, sondern dass Handlungen „geschehen“. Man ist mehr der Zuschauer, aber der ganz und gar engagierte Zuschauer, der sich berühren und erfassen lässt, nicht jemand, dem alles egal ist. Man ist still, der Geist, der Verstand ist still, man ruht in einem unendlich tiefen, zugleich süßen Frieden, wird immer wieder von Wogen von Glückseligkeit aufgesogen, eine dauerhafte tiefere Erfahrung von vollständigem Erfüllt sein. Und Grenzenlosigkeit, Zeitlosigkeit. Wenn Arbeit zu tun oder Probleme zu lösen sind, dann tritt die Stille und die Leere in den Hintergrund, auch wenn sie nie ganz verschwinden.
Man kann es sich auch so vorstellen: Es gibt zwei Arten von Gedanken, zwei Arten von Denken. Das praktische Denken, das nötig ist für das Backen von Brot oder das Bauen einer Brücke. Auch für das Verstehen des anderen und das eigene Verstehen. Und dann gibt es das „Narrative Selbst“. Alles wird kommentiert, Geschichten erzählt und erfunden, Katastrophen versucht vorwegzunehmen, und ständig ein Denken darüber, mache ich das gut genug, was denken die anderen, mache ich Fehler, bin ich großartig oder ein Versager. Durch das Aufwachen fällt dieses Narrative Selbst weg. Übrig bleiben die Gedanken, die für die Gestaltung des Lebens nötig sind. Dies kann man erst wirklich verstehen, wenn man aufgewacht ist, wenn man dauerhaft in dieser tieferen Dimension zu Hause ist.
Und was ist jetzt Persönlichkeit? Da wird ja immer wieder befürchtet, dass durch das Aufwachen Persönlichkeit verschwinden würde. Das Gegenteil ist der Fall. Vor dem Aufwachen ist die Persönlichkeit eng, von der Angst zu sterben und vielen anderen Ängsten eingeengt, auch von der Charakterstruktur, Verhaltensmuster die mechanisch sind und immer wiederkehren. Durch das Aufwachen verschwindet der Großteil dieser Ängste, es verschwindet auch das eingeengte Selbstbild „Ich bin dies, ich bin das, dies kann ich und jenes nicht“. Seit dem Aufwachen wurde ich immer wieder überrascht von dem, was ich plötzlich konnte, wie vielseitig ich mich plötzlich verhielt, jetzt wo Erwartungen wegfielen und kein Selbstbild mehr bestätigt zu werden brauchte. Die Erfahrung macht jeder der aufgewacht ist: er wird vielseitiger, differenzierter, bunter, vor allem auch lebendiger. Gleichzeitig, und das ist ja nicht das einzige, das sich wie ein Paradox anhört, wird er natürlicher, und alles erscheint „normaler“, es fehlt jeder Drang, besser oder auch nur besonders zu sein. Es gibt mehr zu lachen über die Welt und über sich selbst. Ein weiteres Paradox: Das Erleben wird intensiver, aber das Erlebte verliert an Bedeutung. Man sucht nicht mehr Erfüllung in den Dingen, auch zum Beispiel nicht mehr in einer Paarbeziehung, die normalerweise viel zu oft mit Ansprüchen nach Glückseligkeit und Erfüllung überfrachtet wird und gerade dadurch gefährdet ist. Nein, Erfüllung hat man gefunden in der Unendlichkeit, die Beziehung zu Mann und Frau kann jetzt ohne Überfrachtung viel natürlicher, lebendiger, lustvoller und liebevoller werden. Die Persönlichkeit wird bunter und stärker.
Über die Seele mag ich gar nichts sagen. Sie ist das Tiefere und entzieht sich einer Definition. Sie ist die Essenz des Menschen, die Essenz, die dem ganzen Tun zugrunde liegt. Sie ist mehr als das, was wir modern „die Psyche“ nennen. Die Seele ist das Herz, aber auch mehr als das Herz. Sie umfasst die Ahnen, von denen wir abstammen, von denen uns Kraft zukommt. Die Seele ist mehr. Das soll genügen und ich möchte es ganz bewusst so offenhalten.
Christian Meyer, spiritueller Lehrer und Psychotherapeut, lebt in Berlin und macht seit 20 Jahren Retreats, Treffen und Trainings in ganz Deutschland und anderen Ländern. Autor mehrerer Bücher, zuletzt „Ein Kurs in wahrem Loslassen – das Tor des Fühlens zu innerer Freiheit“ im Arkana-Verlag 2016
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