Leichtigkeit entwächst aus der tiefsten Tiefe
von Friederike Hemsath
Ich bin tief getroffen, ein Teil von mir kann und will es nicht glauben, nicht wahrhaben.
Es kann nicht sein, dass es definitiv ist. Erst seit zehn Jahren haben wir uns in unserer Schwesternschaft gefunden. Wir sind aneinander interessiert, alte Muster durften sich auflösen: Nun ist sie meine geliebte Schwester.
Früher war sie meine große Schwester, oft genervt von der «kleinen» Schwester. Auf kleine Schwestern muss man aufpassen, sie wollen immer dabei sein wie eine Klette, die sich an einen haftet.
Und dann diese Zerrissenheit, wenn man für sie da ist und es nie genügt.
Aaah, man kann sie auch ärgern, wenn sie schon immer dabei ist, das macht irgendwie fast Spaß...
Ja und ich, ich wollte zu meiner «großen « Schwester, in die Nähe, egal was sie mit mir anstellte, für die Nähe ließ ich alles mit mir geschehen, gewöhnte mich an den Schmerz.
Bis wir erwachsen wurden , war da einfach nur noch Abstand.
Dann kam das Erbe unserer Tante: die zu jedem von uns einen dichten Kontakt pflegte.
Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich nicht so sehr mochte, meine Schwester lieber mochte. Allein, dass sie uns beiden den Hausstand vererbte, war schon sehr berührend für mich.
Wir erbten den gesamten Hausstand und mit Bauchgrummeln kam ich zu dem Treffen,
wo wir uns Zeit genommen hatten eine Woche dem Aufräumen und Ausräumen des Lebens unserer Tante zu widmen..
Mein Bauch grummelte aus Angst, wieder in die alten Gefühle abtauchen zu müssen, wo ich mich klein fühle, hilflos, mich soweit zurücknehme, daß ich alles geschehen lasse und dem Gefühl nicht so geliebt zu sein wie meine Schwester. Wir wohnten zusammen bei meinen Eltern. Unser Alltagsleben hatte uns weit voneinander entfernt, hatte uns jede für sich unsere Leben aufbauen lassen und wir lebten weit entfernt von unserem Elternhaus.
Wir begannen zu räumen, zu organisieren, wie wir es machen wollten und entdeckten viel «zusammen schwingen», wie wir dieses Projekt angingen.
Und dann so viele Geschichten von früher: die Dose in der Küche, die immer mit Lakritzen - Katzenpfoten - gefüllt war... im Wohnzimmer die Uhr , die jede Stunde zart pling... machte .
Zu allem erzählten wir uns gegenseitig, wie wir uns gefühlt und wie wir empfunden hatten. Und das an dem Ort in der Wohnung meiner Tante, die für uns alle der Zufluchtsort von der großen Familie war. Wir erzählten uns immer mehr, wie unsere inneren Welten gegenseitig aussahen ,wir kamen uns näher und näher, nachts lagen wir noch zusammen im Bett und sprachen weiter, nur zum Schlafen trennten wir uns noch, - sie sagte, dass sie schnarcht ...-
Unser Mitgefühl füreinander wuchs, in mir, was es für meine Schwester hiess, allein schon die Anwesenheit von mir bedeutete oft eine Überforderung. Im Alter von 13 eine kleine Schwester im Zimmer haben zu müssen. Ja ich konnte verstehen, dass so eine kleine Schwester nervt. Und sie war bestürzt darüber, wie tief die Quälereien verbaler und körperlicher Art mir zugesetzt und mich verletzt hatten. Wie sehr die Angst davor zu nerven oder mich zu blamieren und ausgelacht zu werden, mich gebremst und blockiert hatte. Sie bat mich aus tiefstem Herzen um Vergebung und ich spürte, wie leid es ihr tat. Gleichzeitig konnte ich ihre Not spüren und ihr vergeben.
Zwischen all dem Räumen lagen wir uns in den Armen, hatten eine grosse Liebe füreinander, die wuchs und offener wurde und wir begannen uns füreinander zu interessieren und zu verstehen. Es heilte etwas ....
Voller Humor dankten wir unserer Tante, dass sie uns «eingesperrt» hatte, die wir uns zuvor nur mit Fingerspitzengefühl begegnet waren, damit nichts eskaliert, eine Woche in eine kleine Wohnung zum Aufräumen. Eine tiefe Dankbarkeit darüber begleitete und trug uns.
Wir sprachen, erinnerten, lachten weinten, lebten, jede von uns hatte eine Schwester bekommen nach 45 Jahren ....
....und nun sollte sie , die ich gerade erst gefunden hatte, todkrank sein ?
Fassungslosigkeit, Schmerz, Trauer, Mitgefühl und Liebe für sie durchfloss mich.
Ein Teil von mir wollte an Heilung glauben, es gibt so viele Menschen, die einen ganz anderen Weg nehmen, denen eine schwere Krankheit als Tor ins wirkliche Leben dient.
Und sie hatte schon die erste «Etappe» von Chemo nicht vertragen und die katastrophale Diagnose hatte ihr auch nicht das Gefühl gegeben, dass da irgendeine Hoffnung ist. Und so hatte ihr Körper schon bei dieser ersten Chemo voll entgegen reagiert..
Wir alle, Ihr Mann, die Kinder und ich waren im Krankenhaus, mussten sehen, wie sie mit dem Leben rang. Ich saß bei ihr hielt ihre Hand und wir waren still. Jeder Atemzug war eine so grosse Anstrengung – es tat mir so leid und so weh – sie flüsterte : « ich bin so müde ... « in mir wehrte sich alles und ich fühlte in mir den Aufschrei, nein , noch nicht ...
Dann kam ihre Tochter in das Zimmer und sah ihre Mutter, wie sie mit dem Leben rang. Ein herzzerreissender Schrei aus ihr :
MAMA.
Mir brach das Herz, dass sie ihre Mutter dort so liegen sehen musste.
Kraftlos blickte sie auf und versuchte ihre Tochter zu trösten, zu beruhigen, hielt ihre Hand.
Ich nahm mich zurück, blieb in der Begleitung der Situation, damit die beiden ihren Raum hatten.
Ich selbst als Mutter empfand diesen Schmerz so tief mit, dass sie ihre Kinder loslassen muss. Dieser mitempfundene Schmerz löste eine so tiefe Trauer in mir aus, wie eine große Welle , die mich mitnahm.
Wie ein Fluss, der alles wegschwemmt. Ich gab mich diesem Fluss hin. Immer wieder durchzog mich die Angst, als würde ich keinen Halt mehr finden. Dieser Fluss von Trauer trug mich in ein Meer, in dem ich nur noch untergehen kann, so gross war der Schmerz – und ist es bis heute .
Auch diesem Schmerz gab ich mich hin, die Tränen strömten, Hin und wieder wurde der Hals eng, wollte stoppen, mein Zwerchfell tat wieder den nächsten Schluchzer und die nächste Welle von Trauer und Schmerz nahm mich.
Ja , dieses war wirklich das angemessene, wahrhaftige Gefühl in dieser Situation, es gab kein anderes, dass das hätte ausdrücken können. Welle um Welle kam, ich gab mich jeder hin, einfach weil nichts anderes in mir wahr.
Langsam wurden die Wellen flacher, ich staunte, etwas in mir wurde leichter.
die Situation war doch gar nicht anders – durch die nebligen verweinten Augen hindurch wurde der Blick klarer, mein Herz wurde weiter und eine tiefe Liebe für meine Schwester und meine Nichte durchfloss mich.
Ich spürte Liebe, Dankbarkeit, sie war ja da und wir hatten in unserem Leben so ein grosses Geschenk bekommen, uns auf dieser tiefen Ebene zu finden.
Diese Liebe umhüllte uns von da an und begleitete uns durch die Monate , die ihre letzten sein sollten.
Manchmal rollten mir die Tränen, wenn ich bei ihr war und sie fragte: was hast Du , warum weinst Du? «Ich muss immer mal wieder den Schmerz spüren, Dich loslassen zu müssen».
Dann lächelten wir uns wieder an, tief im Herzen verbunden: Still, im Frieden, in Liebe.
In den letzten Tagen als sie noch sprechen konnte, fragte ich sie, während sie sich an mich lehnte – sie hatte keine Kraft mehr , sich selbst zu halten - :» was bleibt, wenn unsere Körper sich jetzt trennen müssen? « Sie sagte : « Die Liebe « und wir umarmten uns im körperlichen Trennungsschmerz, meine Tränen durchflossen mich.
Sie ging...
Gefühle von Ohnmacht, Trauer, Wut auf das Leben, das mir meine Schwester genommen hatte, lösten sich immer wieder auf in die Liebe hinein, die Wellen wurden wieder flacher.
Ein ¾ Jahr später sass ich während der Konfirmation von meiner Tochter in der Kirche und spürte meine Schwester um mich. Ja sie wäre dabei gewesen und fühlte ihre Nähe in mir und um mich. Ein tiefer Schluchzer durchfuhr mich, Tränen rollten über meine Wangen, ich dankte ihr von Herzen , dass sie um mich war und fühlte die tiefe Liebe, die da ist.
Diese Trauer zu durchleben braucht Mut, diese kraftvollen Wellen anzunehmen, die mir fast das Gefühl von Ertrinken gaben. Ich durchlebte sie , tauchte hindurch und fand mich in einem wundersamen Raum von Klarheit, Stille und Liebe.
In der Trauer fließt eine immense Energie, auch wenn die Angst vor dem Schmerz uns immer wieder zurückhalten will, wie grosse Felsstücke die sich einem reißenden Fluss in den Weg stellen.
Geben wir uns diesem Fluss hin, gelangen wir durch Wirbel und Strudel hinein die Ruhe und Klarheit, stellen wir uns dem entgegen müssen wir uns anstrengen, hart werden, oder sogar erstarren.
Eine ungelebte Trauer kann zu einer grossen Last werden.
In dem ruhigen klaren See anzukommen, heisst wieder «Getragen-sein» und Leichtigkeit zu spüren.
Vorträge von Friedrike zu diesem Thema auf dem Festival 2020: