Trost finden im Gestalten des Abschieds
Vor zwei Jahren habe ich das Team der spezialisierten ambulanten palliativen Versorgung verlassen und arbeite nun in einem Bestattungshaus. Dieses Haus ist für mich so besonders, weil es
einerseits von Frauen geführt wird und dort anderseits ein völlig anderes Bestattungskonzept gelebt wird. In den über 20 Jahren meiner Tätigkeiten als Palliative Care Krankenschwester erlebte ich
unzählige Abholungen durch verschiedene Bestattungsunternehmen. Aber wenn meine Chefinnen gekommen waren, das war immer anders. Deshalb war es mein großer Wunsch genau hier meine neue
Arbeitsstelle noch vor meiner Rente anzutreten.
Heute Vormittag soll ich einen verstorbenen Mann im Krankenhaus abholen. Schon bei der Abholung achten wir auf die Würde des verstorbenen Menschen. Deshalb ist es selbstverständlich das ich mit
einem Sarg angefahren komme um den Körper darin ein zu betten. Wir holen die Verstorbenen immer im Sarg ab und nicht im Plastiksack.
Herr M. verstarb vor einem Tag auf der Palliativstation. Der Tote Körper wurde in die Prosektur des Krankenhauses verlegt. Wann immer ich in diese dunklen Katakomben der untergeschossigen Leichenhalle komme, wird mir sehr oft irgendwie mulmig ums Herz. Lieblose Umgebungen, Räume ohne Fenster, kalte, nackte verschmutzte Wände, unangenehme Gerüche, manchmal gelangweilte und angewiderte Männer die die gekühlten Körper aus irgendwelchen Nischen hervorzerren und verschmutzte Wäscheberge in den Wäscheständern.
In diesem Krankenhaus wo Herr M. liegt, arbeiten keine Angestellten die die toten Körper aus den Kühlzellen zerren, wir sind alleine in der Prosektur. Nur ein anderes Bestattungsinstitut ist vor
uns die ihren Verstorbenen abholen. Aus welchen Gründen auch immer hatten sie die Türe nicht verschlossen, so dass wir in den Raum in dem wir die Verstorbenen in den Sarg legen, einsehen können.
Es wäre wohl besser gewesen, ich hätte diese Einsicht nicht gehabt. Sie kamen mit einem grauen Plastiksack und zerrten den im OP-Hemd befindlichen Leichnam da hinein, stopften zuvor noch mit
einer langen Pinzette und Watte den Mund und die Nase zu, damit ein eventuelles Auslaufen verhindert wird. Das nennt man dann sarkastisch „Hygienische Grundversorgung“ und kostet natürlich
zusätzlich. Für mich ein Akt der verletzten Menschenwürde und ein Übergriff sondergleichen. Mit gutem Grund möchte die Ehefrau ihren Mann in einer schönen und liebevollen Umgebung wissen. Es gibt
ihr Trost zu wissen, dass er nicht in einer unpersönlichen Umgebung liegt.
Im Bestattungsinstitut angekommen bringe ich den Verstorbenen in den Vorbereitungsraum. Meine Kollegin hat die beiden Stumpenkerzen für ihn angezündet. Meine Chefin, Frau Kistner kommt um den
Verstorbenen zu begrüßen. Die Ehefrau brachte die Kleidung, die er auf seiner letzten Reise anziehen soll. Ein rotes Hemd, eine Jeans und Turnschuhe, ganz wichtig die Kinderbilder, gezeichnet von
seiner kleinen Tochter.
Ich soll Herrn M. rasieren, waschen, seine Fingernägel schneiden und einkleiden. Immer wenn ich mit den Verstorbenen im Vorbereitungsraum mich befinde um sie zu waschen und neu einzukleiden rezitiere ich ein Mantra welches mir mein Meister empfohlen hat. Manchmal singe ich es auch laut vor mir her. Dieses Mantra hilft alle Hindernisse zu beseitigen. Hindernisse die Verstorbene haben können und natürlich auch ich. Langsam ziehe ich den kühlen Körper aus. Die Leichenstarre hat sich noch nicht aufgelöst. Langsam kann ich sie lösen. Ich beginne mit dem Rasieren. Vorsicht ist bei der Nassrasur angesagt, weil das Gesicht nur noch aus Haut und Knochen besteht und ich ihn nicht verletzen will. Danach wasche ich das noch viel zu junge Erdenkleid mit warmen und gut riechendem Wasser. Mit gekonnten Griffen ziehe ich langsam und behutsam dem leblosen Körper seine Kleidung an. Seinen Mund schließe ich mit einer speziellen Vorrichtung. Zum Schluss lege ich die Kinderbilder seiner Tochter in den Sarg.
Seine Ehefrau wollte gegen Nachmittag ins Bestattungshaus kommen um mit ihm für ein paar Stunden alleine sein. Dafür fahre ich Herrn M. in den kleinen Abschiedsraum, der in weichen Farben
gestrichen ist. Ein gemütliches Sofa steht darin. Die Sonne scheint hell in das Zimmer, welches mit Grünpflanzen, Kerzen und Blumen so freundlich ausschaut. Frau M. kann sich soviel Zeit nehmen
wie sie es braucht für ihren ganz persönlichen Abschied. In dieser Zeit, so berichtete sie mir später, habe sie intensiv gebetet. Gebete die sie beide zu Lebzeiten gemeinsam lebten. Das schenkte
ihr viel Trost.
Frau M´s Wunsch war es, ihren Mann im Bestattungswagen zur Fahrt ins Krematorium zu begleiten. Und, sie wollte bei der Körperübergabe an das Feuer, der Einäscherung anwesend sein.
Natürlich konnte sie das auch tun.
Fünf Tage später um 13 Uhr findet die Trauerfeier im Bestattungshaus statt.
Wir bereiten den großen Raum vor. Um die Urne drapieren wir ein großes dunkelrotes Samttuch, legen die Blumen und Kränze nieder. Eine Schale mit Wasser gefüllt steht neben der Urne, darin
schwimmt eine einzelne Schwimmkerze und Blütenblätter. Die Kerzen an den Wänden sind angezündet und mehrere Kerzen sind auf dem Boden verteilt. Hinter der Urne haben wir ein großes Bild von Herrn
M. aufgestellt.
Es werden dreißig Trauergäste erwartet, soviel Stühle stehen bereit. Der Organist kommt etwas früher und erprobt das Klavier. Die von der Ehefrau ausgesuchten Lieder liegen für jeden Gast auf dem
Stuhl bereit zum Mitsingen. Dann kommen die Trauergäste. Jeder erhält am Eingang eine angezündete Schwimmkerze in die Hand die er dann nach vorne in die große Schale geben kann. Ein ganz
persönlicher Abschied für jeden. Ein Ritual welches viel Zeit braucht, weil sich alle an der Urne von Herrn M. verabschieden können.
Die Trauerrede wird die Gemeindepfarrerin des Verstorbenen halten. Herr M. wartet auf seinen letzten Abschied.
Es herrscht angespannte Stille, viele Menschen weinen. Der Anblick des Bildes des Verstorbenen Freundes, Partners, Kindes oder Vaters lässt den Verlust noch einmal deutlicher werden.
Sanfte und leichte Musik ertönt. Dann folgt ein gemeinsam gesungenes Lied. Viele Trauergäste tönen in dieses Lied ein. Nach einer kleinen Weile der Stille beginnt die Pfarrerin mit ihrer Rede.
Sie erzählt aus dem Leben von Herrn M. Es folgt ein nächstes Lied und danach Stille.
Später wird gemeinsam gebetet. Zum Schluss spielt der Klavierspieler das Ave-Maria.
Die Trauergäste verlassen langsam den Abschiedsraum. Im Vorraum stehen Kaffee, Tee und Wasser für sie bereit.
Nach der kleinen Stärkung fahren wir gemeinsam zum Friedhof, um den Verstorbenen zu seiner letzten Ruhestätte zu geleiten.
Vier Wochen später kam Frau M. zu uns ins Bestattungshaus mit Kuchen. Es war ihr ein großes Bedürfnis sich bei uns zu bedanken. Diese wichtige Zeit zwischen Versterben und Bestatten ihres Mannes
spendete ihr großen Trost.
Dorothea Mihm, Palliativ Krankenschwester, Heilpraktikerin, Autorin, Kursleiterin für basale Stimulation in der Sterbebegleitung, Bestatterin bei Kistner&Scheidler Frankfurt